Digitalisierung im Lebensmitteleinzelhandel - DocuMatrix
Aktuelle Herausforderungen und Chancen für eine sichere Zukunft

Digitalisierung im Lebensmitteleinzelhandel

Interview mit Frank Lehmann von Retail-Profiling & Supermarkt Inside

Frank Lehmann ist Handelsmanager, der seit vielen Jahren in grossen Unternehmen arbeitet und gearbeitet hat. Sein Schwerpunkt ist der Lebensmitteleinzelhandel. Bei namhaften Unternehmen wie Rewe, Edeka, Karstadt und Kaufland war er in den unterschiedlichsten Bereichen verantwortlich und hat bei Kaufland den Filialaufbau vom Verkaufsleiter bis hin zum Vorstandsvorsitzenden, von 50 auf über 1200 Filialen in 8 Ländern begleitet und verantwortet.

Was ist deine Philosophie und welche Projekte verfolgst du gerade?

Frank Lehmann: Nichts geht alleine – alles macht man im Team. Mit einem guten Team und guten Mitarbeiterin kommt man enorm weit und generiert gute Arbeitsergebnisse für das Unternehmen..

Vor 5 Jahren habe ich mein Unternehmen Frank Lehmann Retail Profiling gegründet. Das ist eine Beratungsboutique, die in der Schnittstelle zwischen dem europäischen LEH, der Lebensmittelindustrie und den Lebensmittelzulieferern agiert. Wir unterstützen die Zulieferer und die Industrie dabei, qualifizierte Kontakte im Lebensmitteleinzelhandel zu bekommen. Dabei arbeiten wir mit vielen Lebensmittelherstellern zusammen, aber auch mit Digital Unternehmen, wie z.B. DocuMatrix.

Nebenbei betreiben wir das größte kostenfrei zu nutzende LEH Branchen-Onlineportal Supermarkt Inside. Das ist mittlerweile der größte B2B-Blog für den Lebensmitteleinzelhandel ist und dementsprechend aktiv genutzt wird. Auf dem Portal kommunizieren die Redaktion täglich interessante Geschichten aus der Branche – für die Branche.

Privat: Ich bin knapp über 55, habe zwei Kinder und eine wunderbare Ehefrau. Wir leben in Süddeutschland in der Region von Heilbronn und das Leben ist einfach wunderbar.

Was bewegt den Retail Food-Sektor gerade?

Frank Lehmann: Fachlich gibt es viele Veränderungen. Der Lebensmitteleinzelhandel bzw. der klassische Einzelhandel befindet sich gerade in einer wahnsinnigen Digitalisierung Phase. Hierbei geht es nicht nur, aber viel darum Omnichannel-Strategien (Mehrkanal-Strategien) zu entwickeln. Ein Händler der Zukunft kommt nicht mehr nur mit dem stationären Geschäft aus, es müssen Online Kanäle her, die alle Handelsunternehmen gerade aktiv schaffen.
Obwohl wir seit fast 10 Jahren dabei sind diesen Change voranzutreiben, stehen diese Aktivitäten nach wie vor gerade erst am Anfang und alle Händler versuchen dort ihren Weg zu finden.

Als Beispiel: Die Kaufland-Gruppe, z.B. hatte vor ca. 6 Jahren einen zeitgemäßen Online-Shop mit Lieferdienst aufgemacht und in Berlin getestet. Wenige Jahre danach haben sie ihn wieder geschlossen. Einige Jahre später hat das Unternehmen den Marketplace von Real übernommen und neu unter Kaufland.de gestartet. Man sieht daran, wie ein großes Unternehmen innerhalb kürzester Zeit einen Strategie-Change realisiert hat. Man sieht das auch im Unterschied Penny und Rewe – die einen haben nur bestimmte Produkte im E-Shop, die anderen haben einen vollen Online-Supermarkt im Angebot.
Der Lebensmittelhandel ist in einem E-Commerce Findungsprozess der die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen nicht nachhaltig negativ beeinflussen darf. Das ist eine wahnsinnige, technische und kaufmännische Herausforderung für die Lebensmittel-Kaufleute. Niemand weiss, wohin die Reise langfristig geht. Parallel dazu wird das stationäre Geschäft im mehr von den Fast Delivery Services angegriffen. Zum Beispiel von Gorillas und Flink die mittlerweile fast in allen großen deutschen Städten am Start sind. Das sind Unternehmen, die Dark-Store Supermärkte betreiben. Das bedeutet, dass man z.B. im Garten beim Grillen ist und dringend Fleisch braucht. Dieses wird dann innerhalb von 10 Minuten vom besagten Unternehmen in den Garten geliefert.
Das sind neue Formate, die der Lebensmittelhandel vor drei Jahren noch gar nicht gekannt hat – sie sind aus dem Boden geschossen und wenn man die finanzielle Perspektive dahinter betrachtet, dann weiss man, was dahinter steckt.

Das sind einige der ganz großen Pain Points, mit denen der gesamte Handel gerade zu kämpfen hat. Denn wir sehen, dass in den letzten 10 Jahren über 50% der stationären Textil-und Schuhhändler Ihre Märkte dicht machen mussten da Sie keine Antworten auf Zalando, Amazon und co. hatten. Auf tägliche Lieferungen bis zur Haustüre und einen tadellosen Reklamationsprozess hatten die stationären Händler keine Antworten. Das wird jetzt gerade jetzt unter Hochdruck nachgearbeitet, vor allem von Grossunternehmern wie z.B. der Schwarzgruppe, Rewe, Edeka & co. Die Schwarz Gruppe baut zur Zeit einen IT-Campus für 5.000 Mitarbeiter. Ein Zeichen dafür, dass sie die 14.000 Lidl & Kaufland Filialen weltweit digital versorgen können.

Die Herausforderungen der jetzigen Zeit sind allerdings noch viel gravierender. Corona haben wir inzwischen mehr oder weniger hinter uns gebracht und jetzt sterben in der Ukraine täglich Menschen. Der Krieg sorgt dafür, dass die eh schon stark angestiegene Inflation weiter steigt. Eine Inflation bedeutet Preisauftrieb – die Preise explodieren. Im Lebensmitteleinzelhandel hatten wir einen Preisanstieg im März 2022 von 7,3% in Deutschland. Das gab es noch nie und wird uns in der nächsten Zeit beschäftigen. Alle Lebensmittelhändler müssen demzufolge permanent die Preise aus den unterschiedlichsten Gründen nach ober korrigieren, die Kunden sind sauer!

Betrachten wir auch die Energiebranche. Was ist, wenn der Nord Stream Eins abgeschaltet wird? Was ist, wenn Öl immer schlechter nach Deutschland kommt? Was ist, wenn Gas nicht mehr ankommt? Der Benzinpreis wird weiter ansteigen. Auch das sind Dinge, die den ganzen Handel und die gesamte Branche massiv beschäftigen.

Was passiert in der Digitalisierung und Automatisierung innerhalb der Unternehmenskommunikation in der Retail-Branche?

Frank Lehmann: Die Digitalisierung ist ein mega Thema. Vor 10 Jahren wurde sehr viel mit Papier geregelt, es wurde auch per Mail kommuniziert. Heutzutage kommuniziert man per Instant-Messaging, mit modernen Kommunikationstools oder mit Taskmanagement um Mitarbeiter zu erreichen.

Die Digitalisierung im Handel ist auf jeden Fall eine unwahrscheinlich herausfordernde Tätigkeit und jedes Unternehmen muss seine Lösung finden. Gerade wenn man weltweit zahlreiche Filialen und Mitarbeiter hat, wird das zur Herausforderung. Zur Unterstützung gibt es spezialisierte Unternehmen, die gerade die interne Kommunikation für klassische Branchen ordentlich nach vorne bringen können.

Wie sieht es mit der Kundenkommunikation aus?

Frank Lehmann: Die Kundenkommunikation im klassischen, stationären Handel ist sehr limitiert. In der Regel begrüsst man den Kunden hier am Eingang mit einem Schild “Herzlich willkommen”, im Lebensmittelhandel ist der Kunde eher anonym unterwegs – er kommt rein, kauft ein, bezahlt und ist wieder weg. Ausser er ist ein Kundenkarten-Kunde, dann hat man die Chance, mit ihm zu kommunizieren. Das ist eine tolle und sehr wichtig Möglichkeit auch die Bon-Daten haben hier eine große Bedeutung..
Das grosse, aktuelle Thema heutzutage ist die App-Kommunikation mit den Kunden. Sobald der Kunde in den Markt eintritt und eingeloggt ist, wird er begrüsst und bekommt seine personalisierten Angebote angezeigt. Trinke ich z.B. gerne toskanischen Weisswein, sagt mir das System „Hallo Frank Lehmann, schön, dass Sie bei uns einkaufen. Bitte beachten Sie, dass der Weisswein XY heute in der Werbung für nur 5,00 € ist.“ Auch kassieren mit dem Handy (wenn der Kunde selbst alle Lebensmittel einscannt und am Ende des Einkaufs nur noch das Handy auf das Lesegerät hält) wird gerade vielfältig multipliziert und bei einigen großen Händler schon im Roll-Out. So geht das rasant weiter. Nur wer seine Kunden auf der App oder Kundenkarte hat, kann mit ihnen in Kontakt treten. Wer mit seinen Kunden kommunizieren kann, hat die grosse Chance, mehr verkaufen zu können und die Bedürfnisse der Kunden zu kennen. Weiter geht es dann mit Custom Data, wenn ich weiss, was Frank Lehmann kauft, was sein Stamm-Einkaufszettel ist, kann man den Kunden mit Angeboten versorgen oder am besten gleich zusenden.

Welche Herausforderungen existieren gerade in der Retail-Branche?

Frank Lehmann: Ausgehend von den operativen Herausforderungen muss man sagen, dass es in den letzten zwei Jahren die Pandemie war, weil der Lebensmitteleinzelhandel eine systemrelevante Versorgungsstelle ist. Das bedeutet, als alle Formate schlossen, mussten die Menschen und die gesamte Organisation der Händler im Lebensmittelhandel, weiterarbeiten. Parallel sind die Umsätze explodiert. Es musste noch mehr Personal angeschafft werden um die extremen Warenströme zu bewältigen.

Das paart sich jetzt mit dem Preisauftrieb der Inflation. Obendrauf sorgt der Russland-Ukraine-Krieg für weitere Unsicherheiten und Lieferengpässe. Hinzu kommt grundsätzlich, dass der gesamte Einzelhandel kein besonders populärer Arbeitgeber ist. Die langen Öffnungs- und Dienstleistungs Zeiten halten neue Mitarbeiter fern. Das Thema New Work, flexible Arbeitszeiten, Work-Life-Balance sind allgemein grosse Herausforderungen für den stationären Handel, in denen sich der LEH noch ganz am Anfang befindet.

Da kann nur Digitalisierung und moderne Software helfen. Sie nimmt den operativen Mitarbeitern immer mehr Aufgaben ab und hilft, im Endeffekt, dem Menschen, der in der Branche arbeiten will dabei die Dinge zu tun, die wirklich von größter Bedeutung sind. So wurden in den letzten jahren eigentlich bei fast allen großen Händlern automatische Dispo Systeme eingeführt die zu enormer Arbeitserleichterung auf der Fläche beigetragen haben.

Was sind die Pain Points im Arbeitsablauf, die es in Zukunft zu lösen gibt?

Frank Lehmann: Ein elementarer Pain-Point in der Zukunft ist die Waren Beschickung. Betrachten wir mal den Prozess im Handel: Es wird zuerst ein Sortiment im Einkauf gestaltet, das Sortiment wird eingekauft und ins Zentrallager geliefert. Von dort aus wird es mehr oder weniger automatisch auf Paletten oder Rollcontainern der Logistik bereitgestellt. Dann kommt ein LKW-Fahrer, der die Ware in die Märkte fährt.
Der Pain Point Nummer eins ist dabei die nicht automatische Kommissionierung, das muss noch teilweise manuell erfolgen. Für bestimmte Themen gibt es keine Roboter, diese müssen zuerst entwickelt werden. Die grossen Händler wie die Schwarz Gruppe oder REWE arbeiten alle schon mit Kommissionierrobotern, aber noch lange nicht für alle Sortimente. Ein weiterer Punkt ist die Datenqualität, hier sind die Aufgaben noch riesig!

Das zweite Thema betrifft die Logistik, genauer genommen die LKW-Fahrer. In der Deutschland, Schweiz und Österreich sind ein Großteil der LKW-Fahrer keine einheimischen Menschen mehr. Es stellt sich die Frage, wer in Zukunft die LKWs fährt. Gibt es vielleicht automatisiertes Fahren?

Weiter geht es, nachdem die Palette im Filiallager steht. In Zukunft stellt sich die Frage, wie die Ware in die Regale der Supermärkte kommt. Heute machen das fleissige Menschen, für die Zukunft gibt es aber noch keine optimalen Lösungen. Wobei automatisierte Regale bereits getestet werden. Hier wird die Ware hinten in einen Automaten gestellt. Anschließend verteilt sich die Ware automatisch in den Regalen. So kann sie dann vom Kunden entnommen werden, wobei diese Technologie unwahrscheinlich teuer ist und noch ganz am Anfang steht. Ein großer Pain Point ist demnach die Dekommissionierung der Ware in den Filialen.

Im Markt gibt es außerdem den Preisauszeichnung Prozess. Hier gibt es die Preise am Regal, Aktionsflächen und in der Zweitplatzierung, kleine und grosse Schilder. Mit dem heutigen System wird das Papieretikett nach wie vor am häufigsten eingesetzt. Dahinter steckt ein manueller Prozess. Es beschäftigen sich tausende von Mitarbeitern damit, diese zu drucken und auszuwechseln – eine stimmende Preisauszeichnung in den Märkten stellt somit einen grossen Pain Point dar. Die neue Technologie ESL, electronic shelf labeling, kann dabei abhilfe schaffen. Es wundert mich, dass hier nicht viel mehr investiert wird, denn das könnte die Prozesse wesentlich erleichtern und eine gewisse Preisdynamik ist ja auch gerade in Zeiten der Inflation sehr wichtig.

Nach der Preisauszeichnung geht es noch ans Kassieren. Die Ware muss an die Kunden gebracht werden. Deutschland stellt ein sehr konservatives Kassier Land dar. Die Kunden wollen kassiert bekommen, sie wollen noch flächig kein Self-Scanning. In England und Irland ist Self-Scanning hingegen zu 80% rolled-out, in Deutschland gerade mal zu 10-20%.

Wie schätzt du die Zukunft des Retail-Sektors ein, wo bewegen wir uns hin?

Frank Lehmann: In die Zukunft zu schauen und abzuschätzen, was tatsächlich passiert, ist nicht leicht. Das sehen wir auch an den dramatischen Ereignissen wie Corona oder am Russland-Ukraine-Krieg.

Gerade im Lebensmitteleinzelhandel wird die Digitalisierung rasant voranschreiten. Es gibt keine Alternative dazu. Vor allem im Waren-Prozess ist die weitere Digitalisierung dringend notwendig, denn wir brauchen sie um vielen Faktoren begegnen zu können.
Ein Beispiel ist die demografische Entwicklung in Deutschland. Das deutsche Volk wird kleiner. Der Eintritt ins Rentenalter des geburtenstärksten Jahrganges 1964 der Republik belastet den Arbeitsmarkt und die Rentenkassen. Wer soll all diese Job s ersetzen? Wer will heute noch an der Kasse sitzen oder im Lager arbeiten?

Auch dem Handel muss es gelingen, New Work zu generieren – zeitgemässe Arbeitsplätze zu schaffen, die den Arbeitsplatz im Einzelhandel attraktiv machen. Das ist eine riesen Aufgaben, unter anderem aufgrund der Öffnungszeiten.

Ich persönlich denke, dass wir in den nächsten 5 Jahren keine signifikanten Veränderungen erleben werden. Zuallererst müssen wir die Schleifspuren von Coronaund dem anhaltenden Putin-Krieg in den Griff bekommen. Die Schäden des Krieges in der Ukraine müssen behoben werden und schließlich muss sich die Weltwirtschaft erstmals ein wenig konsolidieren. Dementsprechend steht die dynamische Entwicklung von Innovationen nicht an erster Stelle.

Aber: innovative Themen wie Fast Delivery Services, Omni-Channel-Strategien, Webshops und E-Commerce werden sich drastisch weiterentwickeln. Diese Entwicklung ist klar nicht mehr zu stoppen.

Heute haben wir in Deutschland einen E-Food-Anteil von ca. 3%. Ich gehe davon aus, dass wir in 10 Jahren bei 15% sind, vielleicht bei 20%. Das zeigt bereits, was hier für eine Entwicklung notwendig ist.

Danke Frank für dieses spannende Interview!

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von Maik Schawalder geschrieben am 19. April 2022